Flucht und Vertreibung aus Bischofthum

Die chronologischen Aufzeichnungen enden in der Regel mit dem Hinweis auf Flucht und Vertreibung. Hierzu gibt es die Berichte von Zeitzeugen, aufgezeichnet von Detlef Gollnick in seinen Erinnerungen an Bischofthum.

Die Flucht

Familien Lünser-Engfer

14 Nachfahren von Lünsers gaben als Ziel durch die Vertreibung den Ort Börninghausen im Kreis Lübbecke an und sind gemeinsam dort am 22. Februar 1946 eingetroffen.

Es sind dies: Tochter Marie Schacht mit Ehemann Paul, deren zwei Töchter und zwei Enkel und Schwiegertochter, Tochter Ida Kuchenbecker mit zwei Töchtern und Enkelin, Schwiegertochter Anna Lünser mit Tochter Lilli Vieselmeier und Hauswirtschafterin. Im Einzelnen:

  • Elsa Lotte Paula Gollnick geb. Schacht (* 11.10.1907 in Bischofthum, † 05.10.1982 in Preußisch Oldendorf)
  • Detlef Peter Paul Gollnick (* 04.04.1938 in Bischofthum)
  • Gertrud Klück geb. Schmolsin (* 22.08.1915, † 1985)
  • Gerda Kuchenbecker (* 04.07.1920 in Bischofthum)
  • Ida Wilhelmine Amalie Kuchenbecker geb. Lünser (* 29.09.1885 in Sassenburg, † 26.12.1972 in Lübbecke)
  • Anna Emilie Alwine Lünser geb. Becker (* 19.11.1890 in Börninghausen, † 20.10.1879)
  • Hedwig Helena Schacht geb. Mayer (* 15.12.1919 in Krautheim, † 03.12.1996)
  • Maria Luise Schacht geb. Lünser (* 17.01.1884 in Sassenburg, † 06.04.1963 in Börninghausen)
  • Paul Richard Schacht (* 08.02.1879 in Bischofthum, † 28.02.1963 in Börninghausen)
  • Uwe Burkhard Schulz (* 17.05.1945 in Roman, Hinterpommern)
  • Erna Frieda Marie Schulz geb. Schacht (* 02.06.1913 in Bischofthum, † 01.10.1995 in Lübbecke)
  • Lilli Charlotte Holdine Vieselmeier geb. Lünser (* 13.10.1915 in Bischofthum, † 25.01.2005 in Lübbecke)
  • Siegrid Helga Helene Vogt geb. Wedel (* 15.09.1938 in Baldenburg)
  • Ilse Elfriede Marie Wedel geb. Kuchenbecker (* 29.10.1910 in Bischofthum, † 19.11.1969 in Lübbecke)

Ein Packbefehl für das Dorf Bischofthum erging im Januar 1945. Der Fluchtbefehl kam vom Amtsvorsteher [Ortsbauernführer, GK] Otto Müller im Februar 1945.

Mit Pferd und Wagen und Hausrat einschließlich Betten haben sich alle Familien Mitte Februar auf den Weg gemacht. Die Fahrt führte über Kasimirshof, Drensch, Grumsdorf bis Treptow an der Rega.

Dort war der Russe plötzlich vor dem Treck. Mit Panzern wurde ein Flüchtlingszug beschossen und damit war die Flucht zu Ende. Unzählige Menschen verließen den Zug und flüchteten über die Felder.

Verlassene Häuser in Roman wurden als Unterkunft bezogen. Die Wagen unseres Trecks wurden von den russischen Soldaten geplündert und alle Pferde mitgenommen.

Jüngere Frauen mußten sich am Tage verstecken und oft auch nachts aus dem Fenster springen, wenn Gefahr von Soldaten drohte.

Hier wurde auch Uwe Schulz am 17. Mai 1945 geboren. Seine Mutter Erna Schulz geb. Schacht war die Schwester von Gerhard Schacht, Elsa Gollnick und Lisbeth Schulz.

Dann kam der Befehl, daß alle Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren müssen. Zurück in Bischofthum waren die meisten Gebäude intakt, aber menschenleer. Es muß aber auch Kämpfe gegeben haben, denn auf dem Hof Minther lagen tote deutsche Soldaten, die von frei laufenden Schweinen angefressen waren.

Das Dach der Scheune von Gollnick hatte einige Löcher von Granateinschlägen.

Detlef Gollnick

Entgegen der Aussage von Detlef Gollnick, dass der Fluchtbefehl von Otto Müller kam, beschrieb Gerhard Klatt, der Neffe von Karl Klatt, Abbau Bischofthum, in einem Interview 2014, dass ein deutscher Offizier dringend zur Abreise aufforderte, da die Front ganz nah sei.

Gerhard Klatt

Aus der Niederschrift von Gerhard Klatt stammt der Bericht über die letzten Kriegstage in Bischofthum und den Fluchtversuch der Familie Klatt:

Familie Klatt

Um die Weihnachtszeit 1944 kamen die ersten Flüchtlinge aus Ostpreußen. Der Treck verteilte sich auf die einzelnen Bauernhöfe im Dorf. Auch bei uns auf dem Abbau blieb eine Familie für zwei Tage. Sie ergänzten ihre Lebensmittel und baten um ein paar Säcke Hafer für die Pferde.

Anfang Februar war der Geschützdonner nicht mehr zu überhören. Zwar noch relativ weit entfernt, aber von Tag zu Tag deutlicher vernehmbar.

Am 25. Februar 1945 Fliegergebrumm und Detonationen! Wir liefen hinter den Kuhstall und sahen russische Schlachtflieger in Richtung des Städtchens Baldenburg kreisen und hörten sehr deutlich die Detonationen der abgeworfenen Bomben. Später erfuhren wir, dass sie den Bahnhof und die Bahnanlagen bombardiert hatten. Diese Bombardierung war Vorbereitung, für die von Südosten heranrückende russische Front. In der Nacht verstärkten sich die Gefechtsgeräusche. Jetzt konnte man sogar schon Infanteriewaffen hören.

Mein Onkel sagte: Jetzt wird es aber höchste Zeit, wenn es nicht sogar schon zu spät ist. Bauer Müller, seines Zeichens Ortsbauernführer hatte den Bauern von Bischofthum, die ihre Wagen schon Wochen vorher zur Abfahrt vorbereitet hatten, mit Strafe und Erschießung gedroht falls sie sich selbständig als Treck in Marsch setzen würden. Erst wenn der Befehl von der Kreisleitung kommt, die für die Festlegung der Marschrouten zuständig war, durfte ein Treck sich in Bewegung setzen. Aber die Herren der Kreisleitung, zuständig für diese Befehle, hatten längst ihre Haut gerettet und waren rechtzeitig getürmt!

Das Chaos auf den Straßen war nicht zu verhindern. Mit der Schnelligkeit wie die Russen vorwärts kamen, hatte niemand gerechnet. Die Deutsche Wehrmacht hatte dieser geballten Kraft kaum noch etwas entgegen zu setzen. Nur hier und da wurden die Russen in Gefechte verwickelt um den Trecks einen kleinen Vorsprung zu ermöglichen. Das riesige Potential der Russen an Menschen und Waffen war nicht mehr aufzuhalten.

Es war noch finstere Nacht am 26. Februar 1945, als Onkel Karl mich zum Nachbarabbau zu Albert Kuchenbecker schickte. Ich sollte sagen, dass wir nicht länger warten würden und ob sie auch mitfahren wollten. In einer Stunde wären wir fertig und würden abfahren. Die Entfernung zu Kuchenbeckers Gehöft war ungefähr 600 Meter. Ich hastete los über die verschneiten Felder. Plötzlich ging ein orgelndes Geräusch über meinem Kopf hinweg. Kurz darauf ein dumpfer Knall. Ich dachte mein Gott, jetzt schießen sie auf dich! Aber danach blieb es ruhig. Entfernter Gefechtslärm war zwar zu hören aber kein Granateinschlag mehr in unmittelbarer Nähe. Ein kurzes Gespräch bei Kuchenbeckers und im Schweinsgalopp rannte ich wieder zurück, wobei ich versuchte im Schutz der Bodenwellen zu laufen. Kuchenbeckers fuhren also mit und wollten sich im Dorf dem Treck anschließen. Inzwischen herrschte auf unserem Hof eine rege Betriebsamkeit. Die Wagen waren tagelang vorher beladen worden und standen in der Scheune bereit. Noch vorbereitete Lebensmittel wurden verstaut, Oma Hulda (92) auf den zweiten Wagen gesetzt und unter Tränen verließen wir Haus und Hof.

In dieser Jahreszeit und der momentanen Schneelage, wäre man mit Schlitten schneller vorangekommen. Aber wie lange würde es dauern bis der Schnee wegtaut und dann? Die Pferde waren zu bedauern. Die vollbeladenen Ackerwägen durch den Schnee auf den Feldwegen zu ziehen, war eine Quälerei. Den ersten Wagen führte mein Onkel und den zweiten der Kriegsgefangene Franzose Leo, der nicht auf dem Hof zurückbleiben wollte. Er sah in dieser Flucht eine Chance Richtung Westen seiner Heimat näher zu kommen. Die beiden Zivilgefangenen Russen, Jakob und Tanja, blieben zurück. Der Onkel trug ihnen noch auf, so lange sie noch auf dem Hof waren, sollten sie das Vieh füttern. Und wenn sie den Hof verlassen würden, sollten sie alle Stalltüren öffnen und die Kühe losbinden. Hühner, Enten und Gänse, überhaupt das ganze Federvieh lief bereits auf dem Hof herum. Die Tante hatte sie bereits ein letztes Mal gefüttert.

Außer Oma liefen wir alle neben den Wagen her, weil die verschneiten Wege den Pferden schwer zu schaffen machten. Dann, wir waren kaum 300 Meter vom Gehöft entfernt, ein Knall sehr laut, dann 10–15 Sekunden danach erneut ein Knall. Das waren Granateinschläge sagte Onkel Karl, der im Ersten Weltkrieg in Frankreich Trommelfeuer erlebt und überlebt hatte. Woher diese beiden Abschüsse kamen und wo sie eingeschlagen hatten, konnten wir nicht ausmachen. Egal jetzt galt es nur noch, so schnell wie möglich fortzukommen.

Da wir vom Abbau kamen, mussten wir nicht ins Dorf sondern konnten uns außerhalb der Ortschaft in den Treck, der bereits in Bewegung war einreihen. Wieviel deutsches Militär im Dorf lag, konnten wir nicht feststellen, aber ungefähr 10–12 Soldaten waren am Ortseingang damit beschäftigt, eine Straßensperre zu errichten. Der Treck fuhr über Kasimirshof, Drensch Richtung Westen. Durch welche weiteren Ortschaften wir noch kamen und welche Straßen wir benutzten, weiß ich nicht mehr, es waren zu viele. Des öfteren mussten wir gezwungenermaßen die Richtung ändern und auch Umwege fahren, um deutsche Militärkolonnen nicht zu behindern. Die russische Front kam in diesem Abschnitt aus Süden, wir mussten ausweichen und kamen dadurch immer weiter nach Norden anstatt nach Westen.

Übernachtet wurde in leer stehenden Häusern, Schulen, Scheunen eigentlich überall da wo Platz war. Bis auf ganz wenige Ausnahmen waren die Dörfer menschenleer. Natürlich gab es Bauern, die sagten: Nein, wir lassen unseren Grund und Boden und alles was dazu gehört, nicht im Stich. Für uns wäre es vielleicht auch besser gewesen auf dem Hof zu bleiben, wir hätten uns dann viele Strapazen erspart. Aber wer konnte wissen, dass wir die Oder überhaupt nicht mehr erreichen würden!

Das Vieh, wie überall freigelassen, irrte in Feld und Flur und in den Ortschaften umher. Um Verpflegung brauchten wir uns keine Sorgen zu machen. Die Keller und Vorratsräume der verlassenen Häuser und Höfe waren voll davon. Später, auf dem Rückmarsch zu Fuß und ohne Pferd und Wagen, sah das mit der Verpflegung etwas anders aus. Nachdem die russischen Angriffstruppen und danach der Troß über das Land hinweggezogen waren, gab es kaum noch etwas zu holen. Was die Russen nicht mitnahmen, zerstörten sie einfach. Aber auch unsere deutschen Truppen haben sich des öfteren aus dem Land verpflegt, weil der Nachschub meistens mangels Treibstoff die Truppe gar nicht mehr erreichte.

Eines Tages waren plötzlich russische Flieger da. Sie beschossen den Treck mit ihren Bordwaffen. Bomben fielen zum Glück keine. Alle ließen die Wagen stehen und rannten runter von der Straße, um unter den Bäumen in den Straßengräben Schutz zu suchen. Sie rauschten zweimal drüber und verschwanden dann wieder. Ich kann nicht mehr sagen ob jemand verletzt oder getötet wurde. Der Treck war ja inzwischen kilometerlang. Im Laufe der zwei Wochen, die wir jetzt schon unterwegs waren, hatten sich immer wieder einzelne Wagen unserem Treck angeschlossen. Jedenfalls ging es sofort weiter und jeder hatte mit sich, seinen Angehörigen und den Fuhrwerken zu tun. Oma blieb während des Tieffliegerangriffs auf dem Wagen sitzen. Sie sagte gefasst: Ob ich hier auf dem Wagen sterbe oder unten im Graben ist doch egal. Als wenn sie es geahnt hätte, ein paar Tage später starb sie unterwegs auf dem Wagen. In der nächsten Ortschaft STERNIN im Kreis Kolberg haben Onkel Karl und Tante Klara Oma beerdigt. Ich nehme an auf dem Friedhof aber gesagt haben sie es nie. Es durfte ja nicht viel Zeit verloren gehen. Der Treck fuhr weiter und wir scherten später wieder ein. Vermutlich starb Oma an Herzversagen, denn krank war sie eigentlich nicht. Die Strapazen während der Flucht, die Angst vor den Russen und die Begleitumstände allgemein hat sie nicht mehr verkraftet. Der Ort Sternin liegt etwa 15–20 km von Treptow a.d. Rega entfernt.

Onkel Karl war es am liebsten, wenn die zu fahrende Strecke durch bewaldetes Gebiet ging. Dort war bei erneutem Tieffliegerangriff genügend Deckung für Mensch und Tier. Immer wieder mußte der Treck – durch die Feldpolizei der Wehrmacht dirigiert – Umwege fahren.

Unfreiwillige Endstation für unseren Treck war die Stadt Treptow an der Rega ca. 12–15 Kilometer von der Ostsee entfernt. Als wir dort ankamen, stand ein Lazarettzug bereit, die Lokomotive bereits unter Dampf, zur Abfahrt Richtung Westen. Leider kam es nicht mehr dazu, denn der Vorstoß der russischen Panzer schnitt dem deutschen Militär und auch den Flüchtlingen den Fluchtweg Richtung Westen ab. Die Lokomotive des Lazarettzuges wurde durch eine Panzergranate zerstört. Jetzt löste sich der Treck auf, weil niemand von den die Straße beherrschenden russischen Panzern zermalmt werden wollte. …

Nachdem die russischen Panzer und Artilleriegespanne durch waren, haben wir kein deutsches Militär mehr gesehen. Zumindest keine lebenden Soldaten mehr. Tote lagen auch nach einigen Tagen hier und dort noch herum. Bis sie notgedrungen von Flüchtlingen, aus hygienischen und ethischen Gründen vergraben wurden. Von Beerdigung oder Bestattung zu sprechen, wäre zu vornehm ausgedrückt. Traurig, traurig!! Die russischen Kampftruppen waren in Richtung Ostsee abgerückt, um die um Kolberg kämpfenden Truppen zu unterstützen. Denn Kolberg war zur Festung erklärt worden und sollte unbedingt gehalten werden, um den bereits in der Stadt befindlichen und noch heranströmenden Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, auf dem Wasserweg dem Inferno zu entkommen. Einige tausend waren in der glücklichen Lage, durch die Deutsche Marine gerettet worden zu sein. Sie haben diese Bestien nicht mehr erleben brauchen. Danach kam der Troß! Über diese, stets volltrunkenen russischen Bestien, widerstrebt es mir zu schreiben.

Bücher, wie z.B. diese beiden von vielen Die letzten Tage in Pommern oder Pommern 1945 geben sehr detailliert und drastisch über die Brutalitäten dieser Horden Auskunft. Überall, wo sie auftauchten, gab es Tod und Verderben. Wozu Menschen fähig sind, kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat! Es begann eine Zeit, in der Frauen und Mädchen jeden Alters gejagt wurden. So wurden Vergewaltigungsopfer danach einfach erschossen. Pferde, Wagen und alles für sie Brauchbare wurde den Leuten einfach weggenommen. Sollte es jemandem einfallen, sich dagegen zu wehren, kurzer Prozess, peng!

Familien Kuchenbecker der Höfe Nr. 1 + 15

Am 26.02.1945 begannen 3 Wochen Flucht. Auguste Kuchenbecker, geborene Schubbering, (Mutter von Albert Johann Kuchenbecker), Marie Kuchenbecker, geborene Gohlke, deren Tochter Christel Horn, geborene Kuchenbecker, und ihre beiden Söhne Harald und Ingo versuchten der anrückenden russischen Armee zu entkommen.

Auguste Kuchenbecker musste im März 1945 im Straßengraben zurückgelassen werden. Sie wurde später offiziell mit Wirkung zum 31.12.1945 für tot erklärt.

Die Flucht der übrigen Familienmitglieder endete bei Treptow an der Oder. Dort holte die russische Armee sie ein, ihnen wurde alles abgenommen und sie wurden nach Bischofthum zurückgeschickt. Albert Johann Kuchenbecker war auf dem Hof zurückgeblieben.

Rolf Rosa

Die Familien Minther und Glashagen waren ebenfalls im Dorf geblieben.

Margarete Wurch

Rückmarsch von Treptow nach Bischofthum

Familie Klatt

Nach ein paar Tagen wurden alle Flüchtlinge zusammengetrieben und ein Dolmetscher erklärte uns, dass wir sofort dahin zurückzukehren hätten, wo wir hergekommen waren. Vorher aber wurden die Männer, von denen die Russen annahmen, sie wären bei der Wehrmacht gewesen und hätten sich nur Zivilkleidung angezogen, um der Gefangenschaft zu entgehen, aussortiert und abtransportiert. Onkel Karl, zu diesem Zeitpunkt 56 Jahre alt, haben sie auch mitgenommen. Er kehrte erst zwei Jahre später schwer krank zurück.

Mit dieser Auflage, sich nach Hause zu begeben, setzten sich erneut Trecks in alle Richtungen in Bewegung. Aber diesmal nicht mit Pferd und Wagen, sondern zu Fuß. Ein paar Kleidungsstücke im Jutesack, der mit etwas dickeren Schnüren zusammengebunden wurde, diente als Rucksackersatz. Wer aus den verlassenen Häusern oder Bauerngehöften einen Kinderwagen oder einen Handwagen ergattert hatte, konnte sich glücklich schätzen. Das wir jetzt den kürzesten Weg wählten, um so schnell wie möglich nach Bischofthum zurückzukommen, war selbstverständlich. Kampfhandlungen brauchten wir nicht mehr zu fürchten, da die Front weiter nördlich verlief und Kolberg bereits eingeschlossen war. Die Front Richtung Berlin verlief von Norden nach Süden und stand bereits, in schwere Kämpfe verwickelt, an der Oder bei Küstrin. Allein bei den schwer umkämpften Seelower Höhen nördlich und südlich von Küstrin an der Oder, starben in wenigen Tagen insgesamt 50.000 Soldaten; 33.000 sowjetische, 12.000 deutsche und 5.000 polnische. Und das knapp vier Wochen vor Kriegsende und 60 Kilometer vor Berlin. Auch in Halbe, südlich von Berlin starben in den letzten Tagen vor der Kapitulation nochmals 30.000 Soldaten. Ein Wahnsinn ohnegleichen.

Meine Mutter und ich wären ja lieber Richtung Westen nach Berlin gelaufen, denn da war ja eigentlich unser Zuhause. Das konnten wir aber nicht wagen, weil wir dann wahrscheinlich dauernd mit dem Troß in Berührung gekommen wären. Außerdem wären wir ganz alleine auf uns gestellt gewesen. Lieber zogen wir mit den anderen zurück nach Bischofthum, obwohl das auch kein Zuckerschlecken war! Herumstreunende Horden versetzten jede Nacht die Frauen in Angst und Schrecken. Also ging es erst einmal zurück zum Bauernhof von Onkel und Tante. Was wir auf dem Rückweg rechts und links der Straßen sahen, ist unbeschreiblich. Einige Trecks, die nach uns aus anderen Dörfern Pommerns und Ostpreußens unterwegs waren, hatte das Schicksal ereilt, dass sie von den russischen Panzern von der Straße geschoben und zum Teil sogar überrollt wurden. Trümmer über Trümmer von zerstörten Pferdefuhrwerken und Kriegsgerät. Tote Menschen, tote Pferde, zum Teil manchmal nicht mehr als solche erkennbar.

Wie viele Tage wir brauchten, bis wir wieder in Bischofthum ankamen, weiß ich nicht mehr. Übernachtet wurde wie gehabt in verlassenen Gebäuden. Aber nie einzeln; immer mehrere Familien zusammen. Nach Möglichkeit immer dicht gedrängt in einem Raum. Man glaubte, je mehr Menschen sich in einem Raum aufhielten, desto weniger Gefallen würden die Russen daran finden, sich ihre Opfer zu holen. Und es war tatsächlich so, dass die nächtlichen Besuche in die vollgepfropften Räume manchen Russen abschreckte. Zumindest hatte ich manchmal diesen Eindruck. Die Menschen lagen so dicht nebeneinander, dass die Eindringlinge kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnten. Manche zogen wieder ab und versuchten es in anderen Häusern. Das Schreien und Weinen hörte man jede Nacht.

Ich übertreibe nicht und alles entspricht der Wahrheit so wie ich es erlebt habe!

Andere Russen wiederum störten sich nicht daran, auf die Körper zu treten und holten sich mit Gewalt und vorgehaltener Maschinenpistole oder Pistole ihre Opfer. Einmal jedenfalls wollte so ein betrunkenes Schwein sich über meine Mutter hermachen, obwohl ich daneben lag und schrie. Sie workste, als wenn sie brechen müsste. Das war ihr Glück, denn dieser Lump ließ dann von ihr ab und verschwand. Ob meine Mutter dies nur als Abschreckung tat oder ob es ihr tatsächlich zum Erbrechen schlecht war, habe ich nie erfahren. Ich habe mich auch zeitlebens nicht getraut zu fragen.

Bei Ankunft in Bischofthum nach tagelangem strapaziösen Rückmarsch war im Dorf außer den zurückkehrenden Dorfbewohnern, niemand zu sehen. Einige der Gehöfte waren niedergebrannt, einige durch Beschuß teilweise zerstört. Keine Menschenseele im Ort. Kein Vieh mehr zu sehen. Außer ein paar streunenden Hunden kein Lebewesen. In einigen herumliegenden Stiefeln steckten noch die Füße; von den dazugehörigen Körpern war nichts mehr zu entdecken. Hunde und Schweine hatten ganze Arbeit geleistet!

Auf dem Abbau waren alle Gebäude noch vorhanden jedoch Kuhstall und Scheune beschädigt. Jetzt sahen wir auch, wo die zwei Granaten, deren Einschlag wir bei Beginn der Flucht gehört hatten, eingeschlagen waren. Eine traf auf der Rückseite des Kuhstalls den Heuboden, die zweite Granate die Stirnseite der Scheune. Die beiden Treffer hatten riesige Löcher gerissen, aber gebrannt hatte es nicht. Ein paar Tage später fand ich heraus, von wo die Granaten abgefeuert worden sind. Durch die Zerstörung an Stall und Scheune war die Richtung leicht feststellbar. Grobe Richtung Postweg nach Wittfelde. Ich folgte dem Weg und nach ungefähr 500 Metern sah ich unverkennbar die Spuren von Panzerketten und dort lagen auch die beiden Geschosshülsen. Der Panzer muß wieder zurück zur Straße nach Groß-Wittfelde gefahren sein, denn es gab keine andere Spur. Die Straße Nr. 158 (heute in Polen die Nr. 21) führt von Neustettin über Baldenburg nach Rummelsburg und von dort weiter nach Stolp. Es muß ein einzelner Panzer gewesen sein, der in den Postweg eingebogen war, um entweder das Gelände zu erkunden oder Feindaufklärung zu betreiben. Diese schlauen Sprüche kann ich jetzt, nachdem ich selbst im Nachhinein 28 Jahre bei der Bundeswehr war, von mir geben. Damals mit 14 Jahren hatte ich keine Ahnung von militärischen Aufgaben oder Taktik und Strategie. Aber einzelne Begebenheiten, die mich beeindruckten, oder die mir Angst machten, haben sich mir sehr genau eingeprägt.

Gerhard Klatt

Bericht der Pommernzeitung

Ernstere Schäden durch Brand beim Beschuss während des 2. Weltkrieges hat es auf den Höfen von Karl Schülke und August Remter gegeben. Die Höfe von Albert Dahlke und Paul Redlin wurden durch Feuer vernichtet. Und seit Kriegsende sind durch Verwahrlosung und Abbruch die Gehöfte von Otto Müller und Richard Hardtke schwer beschädigt worden.

Zu den Anwesen, die seit Kriegsende durch Verwahrlosung und Abbruch schwer beschädigt wurden, gehören vom Abbau die von Gustav Prochnow, Karl Klatt und Albert Kuchenbecker. Wohn- und Wirtschaftsgebäude des Guts Lübschenhof waren abgerissen.

Pommernzeitung vom 25. März 1967

Die Plünderungen 1945/46

Nach der Rückkehr ins Geburtshaus im Mai 1945 war von 2 Hütehunden und 2 Katzen nur noch 1 Katze auf ihrem Platz unter der Bodentreppe. Die muß Schlechtes erlebt haben, denn sie kratzte mich, als ich sie streicheln wollte.

Wieder einmal kamen russische Soldaten spät abends ins Haus und suchten junge Frauen. Durch das vorherige Gröhlen aufgeschreckt, waren meine Mutter und meine Tante schon geflohen. Ich lag mit meinen Großeltern im Bett. Die Soldaten kamen ins Schlafzimmer und zielten mit ihren Gewehren auf uns. Da sie keine Frauen gefunden hatten, ließen sie als Rache die Seitengewehre auf meine Großeltern zuschnellen. Der Schreck war natürlich riesengroß, aber geschossen haben sie dann doch nicht.

Oft blieb auch keine Zeit zum Fliehen nach draußen. Dann haben sich die jungen Frauen unter dem Wohnzimmer im Keller versteckt, der nur durch eine abgedeckte Luke im Fußboden zu erreichen war.

Ein Weihnachtsbaum wurde trotz aller Widrigkeiten 1945 doch aufgestellt. Ich weiß noch, daß Strohsterne gebastelt wurden. Statt Lametta wurden Bindfäden zum Binden von Getreidegarben auseinandergezauselt und über den Baum verteilt. Ich erhielt sogar eine selbstgenähte Puppe.

Die Hausplünderungen waren, auch wenn es sich um geringere Werte handelte, eine beständige unmittelbare Gefahr für Leib und Leben.

Die besondere Dramatik bestand darin, daß es sich hier nicht um Einzelaktionen handelte, sondern von der ersten Stunde der Besetzung März 45 an um offizielle polnische Plünderungen. Da es sich hier nicht um befehligte Truppeneinheiten handelte, wurde von Gesindel aller Art Gewalt angewandt. Vielfach wurden Einwohner von russischen Soldaten erschossen oder auch erschlagen.

Ein sowjetischer Soldat und ein polnischer Zivilist (zu erkennen an der weiß-roten Armbinde) hatten sich mit einem Einspänner von Belgard auf den Weg nach Denzin gemacht. Beide sternhagelbesoffen, denn nüchtern hätten sie sich wohl kaum in ein Dorf gewagt, daß noch von keiner sowjetischen Truppeneinheit befreit worden war. Am Dorfeingang begannen sie mit ihrer Plünderung. Mein Vater war gerade beim Kühefüttern, als der Soldat mit schußbereiter Kalaschnikow in den Stall polterte. Urri, Urri, brüllte der Sowjet. Nach verständnislosem Stutzen händigte mein Vater dem Soldat eine Taschenuhr und eine Armbanduhr aus. Wir Kinder staunten, denn der Soldat war von der Hand bis zum Oberarm mit Uhren behangen.

Die Plünderer kamen tags und nachts, waren bewaffnet und in ihrer konkreten Absicht nicht abschätzbar. Als es keine Wertsachen mehr gab, verlangten sie Frauen und Wodka. Besonders dramatisch verliefen Plünderungen, wenn ihnen Frauen beiwohnten. Diese gebärdeten sich besessen, fanatisch, hysterisch.

Die Sowjets hatten das 1944 geerntete Getreide abgefahren, das Vieh abgetrieben, Maschinen und landwirtschaftliche Geräte abtransportiert und sich der Ernte 1945 bemächtigt. Wehrlosen deutschen Zivilisten standen bewaffnete Truppeneinheiten gegenüber. Auf Verweigerung stand die Todesstrafe.

Wir füllten zwei große Truhen vom Hausboden, füllten sie mit Kleidung und Wäsche, vergruben sie in einem Scheunenfach und bedeckten es mit Stroh. Da die Plünderer nicht nur Wohnungen durchsuchten, sondern auch Ställe und Böden, teilten wir die Mengen und brachten sie in andere Verstecke. Die findigen Diebe durchstachen mit langen Eisenstangen die Böden und fanden Sachen. Wenn sie ein Versteck entdeckt hatten, konnte man hoffen, daß sie das Grundstück verließen.

Häuser und Höfe wurden durch Polen besetzt. Der deutsche Besitzer hatte die Wohnung sofort zu räumen. Möbel, Herd, Kochtöpfe, Pfannen, Betten, Textilien, alles blieb in der zu räumenden Wohnung zurück. Manchmal mußte ein zweites Mal geräumt werden, dann waren auch die letzten Habseligkeiten und evtl. Spenden von Nachbarn verloren.

Verfügten die Vertriebenen in den Sammellagern noch über Textilien oder Wertsachen, so verloren sie diese in den amtlichen Beraubungsstellen. So nahmen die Sowjets und Polen den Menschen alles – bis auf das Hemd!

Detlef Gollnick

Der Tagesbefehl von Marschall Schukow, Januar 1945, lautete:

Sowjetsoldat, räche dich. Verhalte dich so, daß der Einbruch unserer Armeen nicht nur den heutigen Deutschen, sondern auch ihren fernen Enkeln in Erinnerung bleibt. Denke daran, daß alles, was die deutschen Untermenschen besitzen, dir gehört. Sowjetsoldat, habe kein Mitleid im Herzen!

Die Vertreibung Lünser-Engfer

Im Mai 1945 mußten alle Geflüchteten wieder in ihre Heimat zurück. Dann wurden im Februar 1946 unter polnischer Verwaltung alle Deutschen ausgewiesen. Auch die letzte verbliebene Habe mußte zurückgelassen werden. Die Nachfahren von Johann Ludwig und Charlotte Lünser, also die Familien Gollnick, Kuchenbecker, Lünser, Wedel, Vieselmeier und Schacht hatten das Ziel Westfalen im Sinn, um nicht in einem Lager aufgenommen zu werden.

Die Fenster der Waggons des Vertriebenenzuges waren mit Brettern verschlagen. Öfter kamen plündernde Russen oder Polen in die Abteile, um letzte Habseligkeiten wegzunehmen. Mutters Uhr am Oberarm des kleinen Detlef haben sie nicht gefunden, aber eine Uhr in der Hosentasche des Bleyle-Anzugs wurde mit einer Rasierklinge herausgeschnitten. Glücklicherweise wurde Detlef nicht verletzt.

In dieser Drangsal im Zug, und auch später bei Familientreffen, wurde u.a. das Lied Harre meine Seele … gesungen, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und Hilfe zu erbitten.

Detlef Gollnick

Im Mai 1946 wurden Albert Johann Kuchenbecker und seine Ehefrau Marie geb. Gohlke zur Ausreise gezwungen, sie siedelten in Kiel an.

Ahnenforschung Rosa
Gerhard Klatt

Die Erinnerungsbilder von Pferdekarren und Hunger, Elendszügen, erfrorenen Säuglingen haben keine Neutralität; sie gleichen sich, eines dem anderen.

Alexander Smoltczyk, Der Spiegel, 17/2015

Fluchterlebnis

Fünfundvierzig im Januar,
als der deutsche Osten am Sterben war …
Am Wegrand stand ich im Dorf Lottin
und sah die Trecks vorüberziehn.
Beim Volkssturm, letztes Aufgebot der Streiter,
die Trecks, sie kamen und hasteten weiter.
Meistens Fremde, zuweilen Bekannte,
von denen jeder ums Leben rannte.

Ein dumpfes Grollen am Horizonte,
das nur die Eile beschleunigen konnte.
Schlitten, Kutschen und Kinderwagen,
man sah sie eilends vorüberjagen.
Weinen, Fluchen, zerbrochene Räder –
nur an sich selber dachte jetzt jeder.

Ochsen und ausgemergelte Pferde,
stolpernd, stürzend, durchforstete Erde.
Auf den Wagen zuweilen seltsame Last,
zusammengerafft in wilder Hast.
Betten, Kisten, zerbrochene Spiegel;
auf einem sogar ein klirrender Flügel.
Hühner, Gänse, ein quickendes Schwein,
denn Spaß muß bei der Leiche sein.

Uralte Männer auf holprigen Sitzen,
vereiste, hängende Schnurrbartspitzen.
Zerfetzte Peitschen in klammen Händen,
wo mag die Elendsfahrt wohl enden?

Auf den Wagen Kinder und alte Frauen,
verstört und jammervoll anzuschauen.
Die Kräftigen liefen nebenher,
denn die Last der Wagen war viel zu schwer.

Löcher und Steine, zertrampelter Schnee
und Feuerschein auf dunklem See,
Lichter und Fackeln, die flackernd brannten,
Menschen, die in den Höfen rumrannten,
dem Elendszug sich einzurein,
Klagen und Weinen und Kinderschrein.

Im Straßengraben ein totes Rind
und da, oh Jammer, ein irrendes Kind!
Ein kleines Mädel, so sechs, sieben Jahre,
Entsetzen im Auge, verzottelte Haare.
Es irrte hastig durchs tolle Gewimmel
im Feuerscheine am nächtlichen Himmel.
Wo gehörst du denn hin? Nach Düsterbruch!
Die sind ja schon vorüber, vorn im Zug.
Nun lauf nur tüchtig hinterdrein,
dann wirst du bald wieder bei Muttern sein …

Ich habe dann später, nach einigen Jahren,
vom Schicksal des kleinen Mädchens erfahren.
Es fand seine Mutter beim Morgenrot.
Der Vater, der war ja schon lange tot,
lag, eilig verscharrt, in russischer Erde,
damit der Endsieg errungen werde.