Peter Frischmuth hat Kreuzberg vor 25 Jahren porträtiert. Jetzt ist er zu den gleichen Orten zurückgekehrt. Sein Bildband zeigt einen Stadtteil im Wandel.
Horst Weinke hatte die Abzüge noch in der Schublade seines Schreibtischs. Griffbereit. Er hatte auch noch die Visitenkarte, die der Fotograf ihm in die vom Kohlenstaub schwarzen Hände gedrückt hatte. Horst Weinke wusste noch, dass es kalt gewesen war an diesem Tag. Er dachte an die Arbeit, wie er die Treppen rauf und runter gegangen war, immer wieder, jahrelang und auf dem Rücken die Kohlen. Wie er bei jedem Wetter einen Handkarren über Kopfsteinpflaster gezogen, wie weh ihm alles nach acht Stunden getan hatte. Er dachte auch, dass er dies damals noch gekonnt hatte, dass er stark gewesen war. Und heute alt und schwach. Horst Weinke dachte daran, dass 25 Jahre eine verdammt lange Zeit sind.
Peter Frischmuth fotografierte den Kohlenschlepper Horst Weinke vor 25 Jahren für seine Diplomarbeit. Ein Stadtteilporträt wollte er machen und hatte sich Berlin-Kreuzberg ausgesucht. Im letzten Jahr kam er zurück, um Kreuzberg noch einmal zu porträtieren. Dieselben Häuser, dieselben Menschen, dieselben Blickwinkel. Soweit das möglich war zumindest. Seine Arbeiten sind nun als Bildband erscheinen. Damals stand Frischmuth noch am Anfang seiner Karriere.
Nach seinem Studium der Fotografie in Dortmund ging er als freier Pressefotograf nach Hamburg, arbeitete für Magazine, reiste für Reiseführer und Reportagen um die Welt. Inzwischen ist er Mitinhaber einer Fotoagentur. Doch Kreuzberg, SO36, hat ihn nie wirklich losgelassen.
Frischmuth war 16 Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Berlin kam, in eine Stadt, die aus dem Fenster des PanAm-Flugzeuges anders aussah als jede andere: Weil sie ein Band aus Licht zerschnitt. Frischmuth wusste natürlich, dass auf dieser zackigen Linie getötet wurde, gestorben, dass diese Linie, nicht aus Licht bestand, sondern aus Mauern, Stacheldraht und Wachtürmen. Und trotzdem war er fasziniert davon. Besonders faszinierte ihn Kreuzberg, zu Mauerzeiten ein Biotop aus Hausbesetzern, Gastarbeitern und Leuten, die nicht weggezogen waren, weil sie es sich nicht hatten leisten können. Der Kiez war ruhiger als heute, sagt Frischmuth, beschaulicher. Es gab kaum Verkehr, weil alle Straßen an der Mauer endeten. Als Frischmuth 1982 seine erste Fotoreihe machte, kannten sich die Nachbarn noch. Zum Beispiel wusste jeder, wer Gerhard Kuchenbecker war. Er verlieh für sechs Mark Petroleumlampen an die Marktstände des Maybachufers. Inzwischen ist Kuchenbecker tot, der Marktplatz längst elektrifiziert, und an der Stelle seines Geschäftes fand Frischmuth eine Tiefgarage.
Einen griechischen Schneider, den Frischmuth damals porträtiert hatte, fand er heute nicht mehr wieder. Aber eine Frau, die damals Küsterin in der Thomaskirche war, stellte sich noch einmal an die gleiche Stelle.
Einiges jedoch habe sich nicht geändert, sagt Frischmuth.
Immer noch ist Kreuzberg aufgeschlossener als andere Berliner Stadtteile. Damals wie heute hätten ihn viele Leute angesprochen, ihn zum Kaffee eingeladen.Viel ist von der früheren, besonderen Mentalität geblieben, sagt Frischmuth. Auch manche seiner Motive hätten sich kaum verändert. So fotografierte Frischmuth einen Balkon in der Wrangelstraße, auf dem jemand eine weibliche Schaufensterpuppe abgestellt hatte.Die Puppe steht immer noch da, in gleicher Pose, allerdings hat sie inzwischen einen männlichen Partner bekommen.Kreuzberg sei nicht mehr so gemütlich wie früher, sagt Frischmuth, man merke, dass der Bezirk in den Mittelpunkt der Stadt gerückt ist. Wehmütig ist er deshalb allerdings nicht. Schließlich käme ihm, der nur die geteilte Stadt kannte, der Mauerfall immer noch wie ein Wunder vor.
Erst jetzt verstehe ich die alten Leute von damals. Die immer davon gesprochen hatten, wie die Stadt vor dem Mauerbau war, wie dynamisch, wie spannend. Für mich als Junge aus der Provinz war das geteilte Berlin schon spannend genug. Die wiedervereinigte Stadt konnte ich mir gar nicht vorstellen.